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Mikrokredit: Ein gescheitertes Konzept?

Selten war ein Instrument der Entwicklungshilfe verheißungsvoller. Das Wort "Mikrokredit" hat(te) einen ganz besonderen Zauber.
Oslo, 2006: Muhammad Yunus und die von ihm gegründete Grameen Bank erhalten den Friedensnobelpreis. Die Krönung seines Lebenswerkes "für die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung von unten". Eine seltsame Allianz aus NGOs, Kirchen, Entwicklungspolitikern, Banken und Wirtschaftsliberalen applaudierte einhellig. Bereits ein Jahr zuvor hatte die UNO das "Jahr der Mikrokredite" ausgerufen. Die Entwicklungshilfe hatte einen neuen Superstar, Entwicklungsländer bald darauf eine neues, florierendes Wirtschaftsmodell.

Unter Mikrokrediten versteht man Kleinstdarlehen, meist in einer Größenordnung bis zu dreistelligen Euro-Beträgen, die an Menschen verliehen werden, die sonst keinen Zugang zu Finanzkapital haben - kurzum: für Arme, die wirtschaftlich aktiv wie kreativ sind. Aus Almosenempfängern der Entwicklungshilfe werden so Kleingewerbetreibende, die ihren Lebensunterhalt - und die Kreditraten natürlich - selbst finanzieren können. Ausschlaggebend für den Erfolg ist die Möglichkeit zu Zugang zu Kapital, trotz der relativ hohen Zinsen. Eine Idee und ein Geschäftsmodell, welches mittlerweile nicht nur in Entwicklungsländern eingesetzt wird, sondern weltweit. In Österreich fördert das Sozialministerium ein Mikrokredite-Programm für angehende Selbstständige.

Bangladesch, 1976: Ein Forschungsprojekt machte den Wirtschaftsprofessor Yunus mit 42 Opfern von Kredithaien bekannt. 10 % Zinsen pro Woche waren zu zahlen, ein Gewinn damit kaum zu erwirtschaften. Er lieh ihnen privat 20 Euro, um ihre Schulden bei den Wucherern zu begleichen. Ein Jahr später waren sie komplett schuldenfrei. Eine Idee war geboren, eine Erfolgsstory nahm ihren Lauf.

Mikrokredite sind nicht finanzielle Zuwendungen aus Nächstenliebe, sondern folgen klaren ökonomischen Prinzipien, auch wenn sie zu Beginn von NPOs mit staatlichen oder privaten Geldern finanziert worden waren. In den 1980ern begannen erste gewinnorientierte Unternehmen ähnliche Finanzierungsmodelle anzubieten. Zwischen 20 und 30 %, damit liegt der durchschnittliche Zinssatz deutlich höher als bei normalen Krediten. Bei privaten Mikrokreditgebern können es schon mal bis zu 70% oder noch mehr sein. Und dies bei unglaublichen Rückzahlungsraten, angeblich bei weit über 90 %. Nicht nur ein Instrument der Entwicklungshilfe, sondern ein lukratives Geschäftsmodell. Mehr als 200 Millionen Menschen weltweit beziehen derzeit einen Mikrokredit, das Finanzierungsvolumen wird auf 70 Milliarden US-Dollar geschätzt.
CC BY 2.0 http://bit.ly/1mhaR6e
Muhammad Yunus © Le Camping

Drei Regeln zum Erfolg

Mikrokredite werden meist an Gruppen vergeben. Die Grundidee dahinter ist gelebte Solidarität; man hilft, motiviert und unterstützt sich gegenseitig. Teilweise existieren gemeinsame Bürgschaften, teilweise verbleibt die Verantwortung der Rückzahlung beim Individuum. In der Praxis entsteht so allerdings auch ein Gruppendruck bis -zwang, für die Rückzahlungsquoten kein Nachteil.

Frauen sind die Zielgruppe Nummer eins, teilweise sogar die einzige, fast immer in Kombination mit anderen Entwicklungshilfeprojekten. Zwei Drittel aller Mikrokredite weltweit erhalten Frauen. Sie gelten als verlässlicher.

Nicht zuletzt ist ständiger Kundenkontakt ein wesentliches Merkmal des Mikrofinanzsystems: Analyse des Geschäftsmodells, Beratung, Kontrolle, Rückzahlungsmodalitäten.

Zahlungsunfähig

Nicaragua, 2009: Tausende Betroffene protestierten gegen die hohen Zinsen der 22 Mikrokredit-Organisationen im Land, formierten sich in der Protestbewegung No Pago. Die Wirtschaftskrise war deutlich zu spüren, die oftmals lebensnotwendigen Geld-Überweisungen von Verwandten aus dem Ausland - fast ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung lebt in Costa Rica oder den USA - blieben aus. Die Menschen konnten ihre Zinsen nicht mehr begleichen, wurden vor Gericht gestellt oder gepfändet. Die Massenproteste endeten erst mit einem Gesetz zur Neuregulierung der Schulden.

Im Idealfall erhält eine Mutter einen Kredit, gründet daraufhin das Unternehmen, entkommt der Armut, ermöglicht ihren Kindern eine Schulbildung und schafft auch noch Arbeitsplätze. Doch Hilfe nach ökonomischen Prinzipien unterliegt auch denselben.

Indien, 2010: 30 Suizide innerhalb von 45 Tagen, allesamt unter Druck gesetzte säumige Mikrokredit-Nehmerinnen. Die Medien berichten über die "Mikrofinanzmafia". Frauen sollen zur Prostitution gezwungen worden seien. Eine Vertragsklausel ermöglicht einen anderen Ausweg aus den Schulden: Im Todesfall gilt der Kredit als getilgt.

Kritik

Was anfangs in den Himmel gelobt wurde, sieht sich in letzter Zeit zunehmender Kritik ausgesetzt. Zu einem guten Teil sicherlich begünstigt durch die Vielzahl profitorientierter Mikrokredit-Banken. Zu hohe Zinssätze, laschere Kontrollen bei der Vergabe, fehlende Überprüfungen der Kreditzwecke, Prämien für Abschlüsse, massiver Druck auf säumige Zahler, Überschuldung.

Neue Untersuchungen, aber auch Neubewertungen bisheriger Studien, berichten wenig Erfreuliches - die Theorie scheitert oftmals an der Praxis; Armutsmindernde Effekte lassen sich selten bis kaum nachweisen. Mit den Geldern werden keine Unternehmungen gegründet, die Kredite werden für das tägliche Überleben oder Krankheitskosten ausgegeben. Dass nicht ein jeder der über 200 Millionen Kleinkreditnehmer ein geborener Unternehmer sein kann, versteht sich eigentlich von selbst. Auch wenn Frauen offiziell das Geld beziehen, so sind es oftmals deren Männer, die darüber bestimmen. Zudem kommen Mikrokredite niemals den Ärmsten der Armen zugute, da eben ein Mindestmaß an Sicherheit (sozialer wie finanzieller Art) vorhanden sein muss.

Dennoch muss festgehalten werden, dass in Einzelfällen beachtliche (wirtschaftliche) Erfolge erzielt werden konnten und armen Menschen prinzipiell der Zugang zu Finanzdienstleistungen überhaupt erst ermöglicht worden ist. Neben dem klassischen Mikrokredit gibt es mittlerweile zusätzliche Angebote der Mikrofinanz-Organisationen, die ein deutliches Plus an Nachhaltigkeit und Hilfe zu Selbsthilfe garantieren. Vor allem Mikroersparnisse und Mikroversicherungen geben vielen Menschen in Entwicklungsländern neue Möglichkeiten.

Projekte

Um Mikrokredite möglichst erfolgreich wie nachhaltig zu gestalten, bieten so gut wie alle NGOs bei ihren Hilfsprojekten eine Vielzahl an begleitenden Maßnahmen an. Schulungen und Trainings im Vorfeld wie während der Kreditvergabe sind der Standard.

Ein Projekt der Caritas in der DR Kongo setzt auf Bildung, die Vergabe von Mikrokrediten ist das letzte Mosaiksteinchen in diesem Programm exklusiv für Frauen. (Details)

In Tijuana, Mexiko, werden ebenfalls Mikrokredite vergeben. Aber das Projekt von Jugend Eine Welt baut wesentlicher vielschichtiger auf, Mikrokredite sind nur eine von fünf Säulen des Hilfsprojekts. (Details)

Haben Sie schon einmal von der Ube-Marmelade gehört? Dieses Hilfsprojekt der Aktion Familienfasttag ist ein Paradebeispiel dafür, was Mikrokredite im Idealfall alles bewirken können. (Details)

Indigene Kleinbauernfamilien in Ecuador profitieren von einem weiteren Projekt von Jugend Eine Welt. Zwar werden Nachhaltigkeit und Selbstverwaltung groß geschrieben, sicherheitshalber wird die Zahlungsmoral aber dadurch bekräftig, säumige Schuldner im Radio öffentlich an den Pranger zu stellen. (Details)

Sie können auch selbst zum Investor am Mikrofinanz-Sektor werden. Auf diversen Plattformen ist es möglich, sich bei der Finanzierung zu beteiligen. Die US-amerikanische NPO Kiva betreibt eine der bekanntesten Homepages diesbezüglich. Auf der englisch-sprachigen Seite kann man sich über verschiedene Projekte informieren, die potentiellen Kleinkreditnehmer präsentieren sich und ihre Geschäftsidee, werben um Ihre Unterstützung. Hier finden Sie hunderte Projekte aus aller Herren Länder.