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Die Einzelkämpfer*innen von Wien

Vor einhundert Jahren hat Max Winter seine einflussreichen Sozialreportagen über die Ärmsten von Wien veröffentlicht. Ein neues Buch von Journalist Uwe Mauch widmet sich den Armen der Gegenwart. Kaum sichtbar und ausgegrenzt machen sie zehn Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung aus.
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Das Buchcover wurde von Thomas Jarmer und Michael Mazohl (Foto) gestaltet. © spendeninfo.at
184.000 "manifest arme" Menschen leben in Wien. Bei einem aktuellen Bevölkerungsstand von 1,84 Millionen macht das zehn Prozent aller Wiener*innen zu Betroffenen. Manifest Arme sind nicht bloß aufgrund ihres niedrigen Einkommens arm: Miete und Heizkosten, eine gesunde Ernährung, Bekleidung, medizinische Versorgung, Transportkosten, sowie die Pflege sozialer Kontakte – Manifest Arme können ihre Lebenserhaltungskosten in einem grundlegenden Ausmaß nicht mehr begleichen.

Sichtbar sind sie kaum. Jene, die unter Brücken oder auf Parkbänken übernachten müssen, machen nur einen kleinen Teil der Betroffenen aus. Und obwohl die Statistiken zu Armut und Armutsgefährdung weithin bekannt sind, bleiben die Menschen und Schicksale hinter den Zahlen ungehört. Einige ihrer Geschichten erzählt Uwe Mauch in seinem neuen Buch "Die Armen von Wien". Der KURIER-Redakteur hat zwei Jahre lang verschiedene Sozialeinrichtungen besucht und Sozialarbeiter*innen begleitet, um mit den Ausgegrenzten ins Gespräch zu kommen. Ein Umstand wird beim Lesen besonders deutlich: Armut und Krankheit gehen Hand in Hand. Und das in einem Land, in dem offziell 99 Prozent der Einwohner*innen krankenversichert sind.

Der tägliche Kampf ums eigene Leiberl

Am vergangenen Mittwoch (23.11.2016) ist "Die Armen von Wien" in der Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz präsentiert worden. Vorgetragen hat aber nicht nur Uwe Mauch, sondern auch Hömal, einer seiner wichtigsten Informanten, Ko-Autor des Kapitels "Arme Hunde" und langjähriger Freund:

"Aus mir wurde früh im Leben ein wortkarger Alkoholiker. Ich bin darauf nicht stolz, aber ich habe mir das nicht aussuchen können. Mein Vater war ein harter Arbeiter, aber auch ein jähzorniger Trinker. (...) Wir waren Außenseiter im Dorf, und dementsprechend habe ich mich schon als Zwölfjähriger gefühlt."

"Neun Jahre habe ich in einem Männerheim der Heilsarmee gewohnt. (...) Wie ich das all die Jahre ausgehalten habe? Ich weiß es heute nicht mehr. Man passt sich irgendwie den Umständen an. Man glaubt gar nicht, was ein Mensch alles aushalten kann."


Auf sieben Seiten erzählt Hömal von seiner eigenen "Talfahrt" und der der anderen, den schlechten Zuständen in der städtischen Notschlafstelle, von herablassenden, empathielosen Ärzt*innen, der Scham. Vom Alkohol, der das Schlechte kurzfristig in den Hintergrund drängt, aber dabei alles nur noch schlimmer macht. Und er erzählt, dass es ohne Hilfe kaum jemanden gelingt, irgendwann wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Doch dass sich das soziale Umfeld zu distanzieren beginnt, sobald es bergab geht.

Hömal hat es geschafft. Seit über zwanzig Jahren verkauft er nun die Wiener Straßenzeitung Augustin, die ihm auch ein soziales Netzwerk und Freizeitangebote bietet. Er singt im Chor "Stimmgewitter Augustin" und spielt im Fußballteam, dem er mit Mitte Fünfzig beigetreten ist:

"Mein erster Fußballtrainer hat einmal gemeint, dass sich unser prekäres Leben auch an unserer Spielweise ablesen lässt. Das tat weh, doch es stimmt: Wir haben nicht nur unsere körperliche Fitness und die koordinativen Fähigkeiten eingebüßt, der tägliche Kampf ums eigene Leiberl hat uns auch den Teamgeist und den Siegeswillen geraubt. Er hat aus uns lauter hochsensible, nur auf sich selbst fokussierte Einzelkämpfer gemacht."
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v.l.n.r.: Uwe Mauch, Hömal, Doris Landauer, Martin Schenk und Sybille Hamann © spendeninfo.at

Bildung ist kein Allheilmittel mehr

Nach der Lesung an diesem Mittwochabend gesellten sich Doris Landauer, Leiterin des AMS-Projekts "Perspektiven für unentdeckte Talente", sowie Martin Schenk, Mitglied des Koordinationsteams der Armutskonferenz, zu Uwe Mauch und Hömal auf die Bühne. Die Diskussion wurde von der Journalistin Sybille Hamann moderiert. Landauer präsentierte aktuelle Zahlen zu Arbeitslosigkeit in Zusammenhang mit dem Bildungsgrad. Ihre Botschaft war eindeutig: nur durch Bildung könne sich ein Leben im Prekariat vermeiden lassen.

"Ich glaube nicht an das Allheilmittel Bildung, wenn gleichzeitig Arbeitsplätze wegrationalisiert werden", gab daraufhin Hömal zu bedenken. Was Landauer nämlich nicht erwähnte: Positionen, für die es eigentlich keiner Ausbildung bedarf, werden vermehrt mit Höherqualifizierten besetzt. Denn immer häufiger finden Menschen mit Matura oder Universitätsabschluss keine Beschäftigung, die ihrem Bildungsgrad entspricht. In den vergangenen zwei Dekaden sind diese zwei Gruppen rasant angewachsen, während die der Menschen mit Pflichtschulabschluss stetig kleiner wird. Solche Entwicklungen müssen bei Diskussionen über Arbeitslosenquoten berücksichtigt werden, die in Wien bei Personen mit Pflichtschulabschluss mit rund 40 Prozent besorgniserregend hoch ist.

Martin Schenk von der Armutskonferenz fasste die Folgen von manifester Armut noch einmal zusammen: 50 Prozent der Betroffenen könnten sich ihren Wohnraum nicht mehr leisten, viele hätten prekäre Jobs sowie gesundheitliche Probleme. Einelternhaushalte seien besonders gefährdet, ebenso wie Pflegebedürftige ab Pflegestufe 3 und Zugezogene (vor allem Armutsmigrant*innen und Asylberechtigte). In ihrer schwierigen Lage meist allein gelassen, ohne Freundschaften, entgegengebrachter Wertschätzung, Respekt und einer sinnvollen Tätigkeit bestimmen bald Schamgefühl und Verzweiflung das Leben der Ärmsten.
An die Reportagen von Max Winter zu Beginn des 20. Jahrhunderts anknüpfend, stellt Uwe Mauch abermals "Die Armen von Wien" vor. Erschienen ist das 13 Sozialreportagen, einen Fakten- und einen Serviceteil umfassende Buch im ÖGB Verlag. Informationen zu einigen der Hilfsorganisationen, mit denen Mauch in den vergangenen zwei Jahren kooperiert hat und ohne deren Einsatz Obdachlose sowie Menschen im Prekariat kaum Chancen hätten, finden Sie in den Links.

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