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Flüchtlingskrise: der Winter ist vorüber

Die vergangene Woche hat abermals schmerzlich zu verstehen gegeben, dass es für Flüchtlingspolitik keine raschen Lösungen gibt. Ein Wochenrückblick.
Friedhof der Flüchtlingsboote.jpg
© Wolfgang Thielke/Flickr
Noch keine drei Wochen bekleidet Christian Kern (SPÖ) das Amt des Bundeskanzlers, da wird bereits von einem ersten Koalitionsstreit gesprochen. Kern ist von der bisherigen Lesart der Asylstatistik abgerückt und hat bei einem Pressetermin nach einem Treffen des Ministerrats am vergangenen Dienstag (01.06.2016) bekanntgegeben, dass in den ersten vier Monaten dieses Jahres 11.000 für die Obergrenze relevante Asylanträge gestellt worden seien. Das Innenministerium spricht jedoch von knapp 19.000, wodurch die gesetzte Grenze von 37.500 Anträgen schon im Sommer erreicht wäre.

Die vom Bundeskanzler nach unten korrigierte Zahl klammert AsylwerberInnen aus, die aus als sicher eingestuften Staaten kommen und somit nicht aslyberechtigt sind sowie auch jene, für die laut Dublin-Verordnung andere EU-Länder verantwortlich sind. Die Zuständigkeit ändert sich erst, wenn die betroffenen Personen nicht innerhalb von sechs Monaten rückgeführt werden.

Die Entrüstung seitens der ÖVP (Innenminister Wolfgang Sobotka witterte daraufhin einen "Linksruck" und der niederösterreichische Landesrat Stephan Pernkopf bezichtigte den Kanzler des "Zahlentricksens") war zu erwarten. Kerns neue Lesart der Asylstatistik trug dazu bei, der Antwort auf die oft gestellte (aber offen gebliebene) Frage nach dem 37.501. Asylantrag etwas näherzukommen: Der Reaktion des Innenministeriums nach zu urteilen wären im Jahr 2016 insgesamt nur 37.500 Anträge bearbeitet worden – inklusive derer, die unter die Dublin-Verordnung fallen oder zu den Resettlementfällen zählen. Bei der Pressekonferenz am Dienstag hat Kern die herumgeisternde Zahl 37.500 uminterpretiert: Sie soll sich jene Menschen beziehen, die eine realistische Chance haben, in Österreich einen positiven Asylbescheid zu bekommen.
Filmclips wie diesen veröffentlicht die NGO Sea-Watch auf Youtube, um die andauernde humanitäre Katastrophe vom Mittelmeer ins Bewusstein Europas zu rücken. © Sea-Watch e.V.

2016: ein "besonders tödliches" Jahr

Dieser erste vermeintliche Koalitionsstreit rückt die reale humanitäre Katastrophe wieder ins Bild, die sich an Europas Toren abspielt. Denn das Einführen innereuropäischer Grenzkontrollen ändert noch lange nichts an den Fluchtgründen, wegen denen sich zigtausende Menschen aus Krisengebieten Richtung Europa aufmachen. Und auch das Schlepperwesen wird dadurch nur in geringem Maße bekämpft – neue Routen und Fluchtweisen sind schnell gefunden. Seit Ende Mai sind 880 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Eine unfassbar bestürzende Zahl.

Heute Freitag konnten rund 340 gekenterte Menschen südlich von Kreta gerettet werden, doch sie berichten von hunderten Vermissten, die gemeinsam mit ihnen die gefährliche Überfahrt angetreten sind. Insgesamt sollen es 700 Menschen gewesen sein. Die BBC entschied sich letzte Woche dazu, ein Video eines kenternten Schiffs zu veröffentlichen, um den Horror im Mittelmeer ins Bewusstsein Europas zu rücken (siehe Link).

Das UNHCR gab Anfang der Woche bekannt, dass das Jahr 2016 bisher "besonders tödlich" gewesen sei: sind im Vorjahr insgesamt 1.855 Menschen bei der Überfahrt ums Leben kommen, waren es seit Jahresbeginn bereits 2.510. Die deutsche Organisation Sea-Watch veröffentlichte das Bild eines ertrunkenen Babys mit dem Aufruf "Wenn wir solche Bilder nicht mehr sehen wollen, müssen wir aufhören, sie zu produzieren". Laut der Tageszeitung Der Standard wirft Sea-Watch der EU-Politik vor, sich mit Lippenbekenntnissen zu begnügen und nicht wahrzunehmen, dass diese tagtäglichen Tragödien die "Konsequenz der europäischen Außenpolitik" seien.

Aber nicht nur das offene Meer ist Schauplatz schrecklicher Ereignisse. Am Donnerstagabend (02.06.2016) berichtete die FM4-Journalistin Chrissi Wilkens aus dem Hotspot Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Die Menschen werden wochenlang unter unwürdigen Bedingungen festgehalten und das Meer ringsum mache die Insel zu einem Gefängnis, erklärt ein Flüchtling bedrückt. Die Polizei agiere oft brutal und die meisten Menschen fürchten sich davor, in die Türkei abgeschoben zu werden. Besonders für Kurden und Kurdinnen ist diese Aussicht beängstigend. Doch der Rückführungspakt mit der Türkei scheint nach seinem zweimonatigen Bestehen bereits zu bröckeln. Indes vermelden immer mehr betroffene Mittelmeerinseln, dass ihre Friedhöfe kaum mehr Kapazitäten hätten, weitere ertrunkene Flüchtlinge zu bestatten.

Ein Weckruf aus Altenfelden

Erhielt man über die Wintermonate noch den Eindruck, die österreichische Flüchtlingspolitik beschäftige sich hauptsächlich mit der Sinnhaftigkeit von Grenzzäunen, so sorgte diese Woche die oberösterreichische Gemeinde Altenfelden für einen tragischen Weckruf: In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch haben unbekannte Brandstifter eine noch unbewohnte Unterkunft für Asylwerber*innen des Roten Kreuzes angezündet. Verletzt wurde niemand, doch der Schaden beläuft sich auf 300.000 Euro.

Als gegen Mittwochmittag bekannt wurde, dass es sich tatsächlich um ein gelegtes Feuer handelte, gab der Präsident des Roten Kreuzes, Walter Aichinger, sogleich bekannt, die Unterkunft wiederaufzubauen und im Sommer zu eröffnen. Lediglich 48 Personen hätten nach Altenfelden ziehen sollen. Vorab sei viel dafür getan worden, die negative Grundstimmung im Ort gegenüber diesem ersten Flüchtlingsheim aufzulockern. Die Sozialistische Jugend Rohrbach hat für Sonntag, den 5. Juni, eine Kundgebung in Altenfelden angemeldet.

Hilfsorganisationen wie die Volkshilfe, die Caritas und das Rotes Kreuz sind sich nun einig, dass Unterkünfte auch in Österreich besser bewacht werden müssen. Vor allem müsse aber was gegen die zunehmende Radikalisierung in der Bevölkerung getan werden, halten die oberösterreichischen Grünen und die Sozialistische Jugend fest. Die extrem negative Rhetorik vonseiten der Politik sei ebenfalls dafür verantwortlich zu machen, dass mehr und mehr Menschen ihren Hass offen zum Ausdruck bringen würden.

Im letzten Jahr registrierte das Innenministerium 25 tätliche Übergriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte. Dazu kommen die unzähligen verbalen Attacken, die sich besonders auf Social Media Plattformen ungehindert vermehren.

Ein neuer Kanzler, ein neuer Kurs?

Spätestens nachdem nun auch hierzulande die erste Flüchtlingsunterkunft abgebrannt ist, sind Länder wie auch die Bundesregierung gefordert, weniger polemisierend über Geflüchtete zu diskutieren. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass tatsächliche Missstände nicht angesprochen werden müssen. Doch wie schon mehrfach gefordert wurde, muss das Verbindende vor dem Spaltenden stehen.

Kerns Berichtigung der Zahl relevanter Asylanträge ist ein erster Schritt zu einem neuen Kurs, der – anders als der vorhergehende – abseits der Extreme stattfinden muss: beispielsweise der dämonisierenden Darstellung triebhafter, männlicher Flüchtlinge einerseits und dem kurz anhaltenden Aufschrei andererseits, wenn ein Lastwagen mit 71 Erstickten aufgegriffen oder, wie diese Woche, erstmals ein Flüchtlingsheim angezündet wird.

Die tagtäglich zur Überfahrt ansetzenden Menschen im Mittelmeer zeigen jedenfalls: Solange Kriege, Armut und Klimawandel sie zur Flucht drängen, wird uns die sogenannte Flüchtlingskrise auf unbestimmte Zeit begleiten. Sich darüber zu streiten, wie die Obergrenze zu interpretieren sei, zeigt auf, dass die österreichische Flüchtlingspolitik bisher lediglich nach kurzfristig wirksamen Lösungen gesucht hat und nicht vorausplant.